Unangekündigte Leistungsnachweise abschaffen
Antragstext
Die Grüne Jugend München setzt sich dafür ein, dass Rechenschaftsablagen (Ausfragen/ Abfragen)in Bayern abgeschafft werden und Stegreifaufgaben bzw. Extemporalen mindestens eine Unterrichtsstunde vorher angekündigt werden müssen.
Begründung
Jeder von euch kennt höchstwahrscheinlich diese Situation: Ganz überraschend wird ein unangekündigter Test geschrieben und du bist nicht vorbereitet, weil du gestern keine Zeit zum Lernen hattest und nicht mit einer Stegreifaufgabe gerechnet hast. Oder du wirst in der Schule abgefragt und hast das Gefühl, vor der Klasse bloßgestellt zu werden, wenn du die Fragen nicht beantworten kannst. Schulstress und Leistungsdruck können extrem belastend für die psychische Gesundheit der Schülerinnen sein.
Durch unangekündigte Leistungsnachweise und gerade Rechenschaftsablagen entstehen Druck- und Angstsituationen und ein Gefühl der ständigen Unsicherheit.
Zu diesem Ergebnis kommt auch folgende Studie: „Die Praxis, Leistungskontrollen nicht anzukündigen, stärkt die Ängstlichkeit von Schülerinnen und Schülern, verringert ihre Freude am Lernen und schwächt dadurch ihre Leistungsfähigkeit. Hingegen hat eine verlässliche Ankündigung von Leistungskontrollen positive emotionale Auswirkungen und kann schulische Leistungen verbessern.“ „Angst ist kein guter Lehrmeister – das ist ja eigentlich eine alte Erkenntnis“, sagt Prof. em. Dr. Ludwig Haag (Schulpädagoge, hat die Studie mitveröffentlicht) (https://www.news4teachers.de/2022/11/studie-unangekuendigte-tests-verunsichern-schueler-und-sorgenfuer-schlechtere-noten/).
Unangekündigte Leistungsnachweise können bei vielen Schülerinnen Prüfungsangst auslösen, welche sehr negative Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden haben kann und keine gute Lernbegleiterin ist.
Es gibt Kinder und Jugendliche, denen es schwerer als anderen fällt, vor der ganzen Klasse zu sprechen. Besonders, wenn eine Schülerin nicht alle Fragen beantworten kann oder komplett unvorbereitet abgefragt wird. Hier entsteht ein enorm hoher sozialer Druck, denn dieder Abgefragte muss nicht nur vor der Lehrkraft, sondern auch vor allen anderen Mitschülerinnen Rechenschaft ablegen.
Ein weiteres Argument gegen Rechenschaftsablagen ist, dass Abfragen extrem ungerecht sind, denn der Schulstoff ist jeden Tag unterschiedlich schwer. Es kann passieren, dass ich ein einziges mal nicht vorbereitet bin und gerade dann erwischt es mich. Außerdem können Rechenschaftsablagen der Schülerin-Lehrerin Beziehung schaden. Kann ich einer Lehrkraft vertrauen und fühle ich mich in ihrem Unterricht wohl, bei der ich jede Stunde damit rechnen muss, überraschend vor der ganzen Klasse Rede und Antwort zu stehen?
Wenn wir über soziale Gerechtigkeit reden, dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht für alle Schülerinnen möglich ist, sich jeden Nachmittag perfekt auf den nächsten Schultag vorzubereiten. Je nach sozioökonomischem Hintergrund stehen den Schülerinnen unterschiedlich gute Möglichkeiten der Vorbereitung zur Verfügung und sie profitieren unterschiedlich stark von der Unterstützung und Erfahrung ihres familiären Umfelds. Dementsprechend kann hier von keiner gerechten und vergleichbaren Leistungserhebung die Rede sein.
In Deutschland haben die meisten Bundesländer mittlerweile für alle Schularten gesetzlich geregelt, dass schriftliche Leistungstests jeglicher Art angekündigt werden müssen ( https://www.news4teachers.de/2022/11/studie-unangekuendigte-tests-verunsichern-schueler-und-sorgen-fuerschlechtere-noten/). Leider ist dies in Bayern nicht der Fall. Stegreifaufgaben bzw. Extemporalen sind an den meisten Schulen immer noch Standard.
In der bayerischen Gymnasialschulordnung heißt es: „Schriftliche Leistungsnachweise sind insbesondere Kurzarbeiten, Stegreifaufgaben, fachliche Leistungstests und Praktikumsberichte“ und „Mündliche Leistungsnachweise sind insbesondere Rechenschaftsablagen, Unterrichtsbeiträge und Referate“(https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayGSO-23). Ähnliches steht auch in der Realschulordnung (https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayRSO-19). In der Mittelschulordnung steht: „Schriftliche Leistungsnachweise können je nach Art und Umfang angekündigt werden; sie müssen angekündigt werden, wenn größere Lernabschnitte bearbeitet werden sollen.“ (https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayMSO-12). Aber auch hier trifft die Lehrerinnenkonferenz vor Unterrichtsbeginn des Schuljahres grundsätzliche Festlegungen zur Erhebung von Leistungsnachweisen (https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayGSO-21 , https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayMSO-12). Das heißt, es ist von der einzelnen Schule abhängig, ob und in welchem Umfang unangekündigte Leistungsnachweise erhoben werden. Somit kann jede Schule in Bayern eigenverantwortlich handeln und selbst entscheiden, ob unangekündigte Leistungsnachweise durchgeführt werden. Trotzdem sind die Schulen meist in alten Gewohnheiten festgefahren.
Hingegen heißt es beispielsweise in der Thüringer Schulordnung: „Klassenarbeiten müssen sich aus dem unmittelbaren Unterrichtsablauf ergeben. In der Grundschule können sie angekündigt werden, in der Regelschule, im Gymnasium und in der Gesamtschule werden sie angekündigt.“ (https://landesrecht.thueringen.de/bsth/document/jlr-SchulOTH1994V13P58). Warum gibt es unangekündigte Leistungsnachweise überhaupt noch, wenn sie mit so vielen Nachteilen verbunden sind?
Befürworterinnen sagen, dass Abfragen dazu dienen sollen, die Schülerinnen auf ihren zukünftigen Berufsalltag in unserer Leistungsgesellschaft vorzubereiten. Aber in welchem Beruf müssen unter Druckoder Angstbedingungen Leistungen erbracht werden? Leistungsgesellschaft heißt nicht, im Berufsleben unter Angstbedingungen gute Leistungen erbringen zu müssen. Und wo werden die Arbeitnehmerinnen von derdem Arbeitgeberin unangekündigt vor allen anderen beurteilt (wobei diese Beurteilung auch noch eine Rolle für die zukünftige Karriere spielt)? Im Großteil der Berufe geschieht dies nicht. Wenn in vereinzelten Berufen solche Situationen vorkommen, ist das keine Rechtfertigung dafür, Schülerinnen tagtäglich unnötigem Stress auszusetzen.
Ein anderes vermeintliches Argument für Rechenschaftsablagen ist, dass Schülerinnen lernen sollen, unvorbereitet vor anderen Menschen zu sprechen. Allerdings entsteht bei einer Abfrage eine Drucksituation, die nicht mit positiven Erfahrungen, vor der Klasse zu sprechen, verknüpft ist. Wobei es manchen Schülerinnen schwerer als anderen fällt, vor vielen Menschen zu sprechen. Referate sind viel besser dazu geeignet, zu lernen, vor der Klasse zu sprechen. Denn hier haben die Schülerinnen die Möglichkeit, sich gezielt vorzubereiten und es herrscht keine Ungewissheit. Viele Lehrkräfte verteidigen Abfragen und Exen, weil sie dadurch schnell eine Note erheben können. Natürlich ist es für Lehrerinnen bequem, einen einzelnen Schülerin auszuwählen, von derdem noch eine Note benötigt wird oder in der letzten Stunde vor den Ferien noch schnell eine Ex zu schreiben.
Die Frage ist nur, wie aussagekräftig diese Note ist. Hat dieder Schülerin eine schlechte Note bekommen, weil sieer das Thema nicht verstanden hat oder hat sieer nicht mit einer Ex/ Abfrage gerechnet und hatte am vergangenen Nachmittag kaum Zeit zum Lernen? Es kommt durchaus vor, dass eine Schülerin gerade auf dem falschen Fuß erwischt wird und in einer anderen Stunde viel besser vorbereitet wäre. Heutzutage gibt es viel modernere Alternativen zu Abfragen, bei denen die erhobene Note viel aussagekräftiger ist, da der Lernprozess eines längeren Zeitraums bewertet wird (wie zum Beispiel in Projektarbeit, Portfolios, etc).
Außerdem wird gesagt, dass sich Schülerinnen nur aus Angst in der nächsten Stunde eine Ex zu schreiben oder abgefragt zu werden kontinuierlich auf die nächsten Schulstunden vorbereiten. Allerdings wird dadurch Schülerinnen beigebracht, dass es nur dann sinnvoll ist zu lernen, wenn sie in der nächsten Stunde einen unangekündigten Leistungstest befürchten. Sprich: Eine Schülerin wird am Anfang des Halbjahres in einem Fach ausgefragt. Das verleitet dazu, sich auf alle weiteren Stunden in diesem Fach nicht mehr vorzubereiten, da die Wahrscheinlichkeit noch einmal abgefragt zu werden sehr gering ist.
Nachhaltiges Lernen muss nicht unbedingt heißen, jeden Tag perfekt auf den Unterricht vorbereitet zu sein.
Wenn wir selbstverantwortliches Lernen ernst nehmen, sollten wir Schülerinnen eine gewisse Flexibilität zugestehen. Sobald es die Vermutung einer Schülerin gibt, dass die Lehrkraft gleich eine Stegreifaufgabe schreiben will, fangen oft viele Schülerinnen in der Pause an, sich den Stoff der letzten Stunde panisch ins Gedächtnis einzuprägen. Das hat nichts mit nachhaltigem Lernen zu tun. Die Praxis, Leistungsnachweise nicht anzukündigen, löst in der Klasse viele Vermutungen und Spekulationen über den Zeitpunkt der Ex oder der Wahrscheinlichkeit, abgefragt zu werden aus. Das lenkt vom eigentlichen Unterrichtsgeschehen ab und ist Energieverschwendung. Die Schulen müssen endlich zeitgemäß handeln und nicht nach dem Motto „Das haben wir schon immer so gemacht“ an althergebrachten Strukturen festhalten. Unangekündigte Leistungsnachweise müssen abgeschafft werden, um Schulstress und Leistungsdruck zu reduzieren und Chancengleichheit zu fördern. Der Unterrichtsalltag der Schülerinnen kann somit stressfreier
gestaltet werden. Das Vertrauensverhältnis zur Lehrkraft wird nicht mehr durch eine überraschende Abfrage geschwächt und es entsteht ein positiveres Lernumfeld.
In der nächsten Wahlperiode müssen endlich die Interessen von Schüler*innen aktiv in die Bildungspolitik miteinbezogen werden. Die Forderung, unangekündigte Leistungsnachweise abzuschaffen, muss ins Regierungsprogramm!
Link zur erwähnten Studie: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0272443
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